19.03.2021
Stufenmodell zum Invasivitätsverhalten Nutria (Myocastor coypus) im Land Bremen
Zum besseren Verständnis des Ausbreitungsverhaltens der Nutria im Land Bremen finden Sie hier ein „Stufenmodell zum Invasivitätsverhalten Nutria (Myocastor coypus)“
Dieses Modell unterteilt das aktuell anhaltende Invasivitätsverhalten der Nutria bezogen auf das Land Bremen in fünf Stufen. Es soll dazu dienen, ein besseres Verständnis von dem zurückliegenden Prozess, der aktuellen Dynamik und der zukünftig zu erwartenden Situation zu erhalten. Es werden Bezüge zur Regulation, zu Schadensmustern und zum Einfluss auf Ökologie und Biodiversität hergestellt.
Die Nutria wird in der EU-Liste „Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 über invasive gebietsfremde Arten (IAS-VO)“ geführt.
Stufe 1
Beginn der Ausbreitung in Bremen / Ausbreitung in Niedersachsen
Ab dem Jahr 2010 fanden Beobachtungen von Einzeltieren im Land Bremen statt. Bis zum Jahr 2012 traten die Nutria dann häufiger auf. Erste Reproduktionen wurden beobachtet. Das Auftreten beschränkte sich auf den Fluss Wümme. Die LJB stellte einen Antrag auf die Aufnahme der Nutria in des Bremische Jagdrecht um der beginnenden Besiedlung der Lebensräume frühzeitig entgegenwirken zu können. Der Antrag wurde aber mit Verweis auf nicht genügende Häufigkeit und der fälschlichen Annahme der regulierenden Funktion strenger Winter abgelehnt. Zu dieser Zeit waren die Nutria in Niedersachsen schon seit 2001 im Jagdrecht. Die Jahresstrecke betrug 2009/10 5588 Individuen und hatte sich seit Beginn der Bejagung vervielfacht. Auch in Niedersachsen hatte die Nutriapopulation den strengen Frostwinter 2009 recht gut überstanden. Die Jagdstrecke betrug 2011/12 4231 Tiere. Die Hälfte davon kam im Emsland zur Strecke. In 26 der 46 Landkreise waren noch keine Nutrias gestreckt worden. (Wild und Jagd – Landesjagdbericht2011 /12Nds. Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung) Sie wurden aber in vielen niedersächsischen Unterhaltungsverbänden schon häufig nachgewiesen.
Stufe 2
Ausbreitung in Bremen
Die weitere Ausbreitung fand zunächst erst unmerklich und langsam statt. 2015-2016 schließlich wurden Nutrias auch außerhalb der Wümme in den Gräben und Gewässern des Bremer Blocklandes mit Schwerpunkt Niederblockland nachgewiesen. An den Ufern treten erste, erhebliche Wühlschäden auf. Die Population nimmt zu. 2017 schließlich sind die Nutria im gesamten Bereich Niederblockland aktiv. Sie dringen über den zentralen Entwässerungsgraben Alte Wettern in die Schutzgebietsflächen hinter den Deichen vor. Erste Biotope werden durch Fraßschäden an Schilf und Röhrichten verändert. Beide Deichverbände stellen in enger Abstimmung mit der Landesjägerschaft Bremen einen neuen Antrag auf die Aufnahme ins Jagdrecht. Eine Pressekampagne über die Ausbreitung der Nutria in Bremen wird durchgeführt. Jetzt können aufgrund des Drucks in der Öffentlichkeit einzelne Jäger bei der Behörde bürokratisch aufwendige Ausnahmegenehmigungen zur Bejagung der Nutria stellen. Die ersten Nutrias in Bremen werden erlegt.
Stufe 3
Verstärkte Ausbreitung / Etablierung der Art
Im Jahr 2019 erleben wir einen massiven Ausbreitungsschub auf den Flächen des gesamten Blocklandes nach Westen und Osten. Die Art ist vollends etabliert. Inzwischen auch Auftreten an der Ochtum und an der Lesum. Endlich erfolgt trotz des Wiederstandes des NABU in Bremen mit der Jagdzeitenverordnung vom 07.06.2019 die Aufnahme der Nutria ins Jagdrecht mit ganzjähriger Jagdzeit. Die Deichverbände leisten nun eine wichtige Unterstützung für die Nutriabejagung mit einer „Schwanzprämie“ von € 6,-, und ermöglichen so eine Art von Aufwandsersatz. Nutriajagd ist aufwendig. Weiter stellen sie auch in den nächsten Jahren Mittel für die Anschaffung von Fallen und Fallenmeldern zur Verfügung. Ab 2020 treten die Tiere auch in Wasserhorst häufig auf. Auch in anderen Bereichen im Land Bremen beginnt die Besiedelung durch die Biberratten. In Niederblockland erfolgt erstmals ein starker Befall des Deiches. Auf ca. 7 km Deichlänge wurden mehr als 15 Nutriabaue im Deich festgestellt. An vielen großen Gräben im Offenland treten starke Uferunterhöhlungen auf. Die befallenen Gräben werden tendenziell breiter und flacher. Die Fließgeschwindigkeit sinkt. Die Unterwasserfauna und -flora verändert sich. Die Nutria beginnt die Pflanzenzusammensetzung der Gräben und der Ufer zu verändern. Schilf, Teichrosen und Röhricht wird zurückgedrängt und verschwindet partiell. Rote-Liste-Arten sind betroffen.
Stufe 4
Starke Verbreitung / Gefährdung der Biodiversität / Besiedelung des urbanen Raums
2020 bis 2021 setzt die Nutria ihre invasive Verbreitungsstrategie ungebremst fort. Die Nutria dringt nun von den großen Gräben auch in die schmalen Gräben vor, um neue Territorien zu besiedeln. Immer neue Reviere und Gebiete melden Nutriavorkommen. Auch in Bremerhaven haben sich die Nutria in 2020 etabliert, heute gibt es auf der Luneplate ein starkes Auftreten. Nach Borgfeld 1 im Jahr 2020 meldet nun im März 2021 auch Borgfeld 2 Nutriavorkommen. Die Reproduktion findet das ganze Jahr hindurch statt. Die Winter waren seit 2009 relativ mild. Die Lebensraumbedingungen sind so optimal, dass die Nutrias weder Ratten noch Bisam in ihrem Territorium verdrängen. Entgegen: (Nutria verdrängen sowohl Ratten, als auch Bisam / Bisamratten - KINZELBACH 2002,JOHANSHON & STRAUSS 2006,ZAHNER 2004). Es existieren Familienverbände von 15-20 Tieren mit überlappenden Streifgebieten, die ihre Territorien je nach Nahrungsangebot verändern können.
Angler berichten von Beobachtungen, dass Nutria mehrfach dabei beobachtet wurden, wie diese Gelege von Grau- und Kanadagänsen prädierten und sogar Eier im Fang mitnahmen, während die Gänse Alarmrufe von sich gaben, sobald sich die Nutria den Gelegen nur annäherten. (mündl. Sascha Müller, Angler, Bremen). Nutria können offensichtlich Eierschalen zur Deckung des Kalkbedarfs aufnehmen. Gleiches bestätigen Fänge von Nutria in Lebensfangfallen, die mit Ei beködert waren. Diese Eier wurden von den Nutrias verzehrt.
Die Jäger konzentrieren sich neben der Bejagung auf der Fläche auf Objektschutz. Die Deiche, Hochwasserschutzeinrichtungen, große Fleete wie die Alte Wettern und konzentrierte Auftreten werden intensiv per Falle und Waffe bejagt. Es stellen sich Erfolge ein. Das Prinzip der Feindvermeidungsstrategie greift beim Nutria durch die Anwendung der Jagd mit der Waffe. Die Nutria wird nach erster Bejagung sehr schnell dämmerungs- und nachtaktiv und erhöht ihre Fluchtdistanz erheblich. Aber erst bei zusätzlich konzentrierter Dämmerungs- und Nachtbejagung meiden die Nutrias dann über teils lange Zeiten die betroffenen Gebiete (so 2020-2021 am Wümmedeich Niederblockland 16 bis 25, während andere Deichbereiche weiter besucht wurden). Damit verfügen wir offensichtlich über ein effektives Objektschutzinstrument, das es weiter zu untersuchen gilt. Die Fallenjagd ist zur vegetationsarmen Zeit sehr effektiv, hat aber keinen Einfluss auf die Initiierung der Feindvermeidungsstrategie. Ein weiterer wichtiger Erfolg ist, dass Nutriabaue in den so intensiv bejagten Deichabschnitten weniger häufig oder gar nicht mehr gefunden werden. Der wichtigste Erfolg ist aber offensichtlich die Verlangsamung der weiteren Ausbreitung, die jetzt weniger schnell als 2019 passiert, sowie die Reduzierung von Schäden.
Die Streckenentwicklung in Bremen 2017/18 =195, 2018/19 = 400, 2019/20 = 1.360 Individuen. Für das Jagdjahr 2020/21 wird eine Strecke von deutlich mehr als 2.000 Tieren erwartet.
In den unter Naturschutz stehenden Gräben mit besonders starkem Auftreten von Nutria in Oberblockland und in Wasserhorst ist örtlich ein massives Verschwinden der Rote-Liste-Arten wie insbesondere Zungenhahnenfuss und Schwanenblume, aber auch Sumpfschwertlilie, Rohrkolben, Schilf und verschiedene Uferröhrlichte auf. In den Bereichen, in denen die Nutria durch intensive Bejagung weniger häufig auftritt, ist ein Verschwinden dieser Rote-Liste-Arten nicht oder nur wenig feststellbar. (mündl. Karin Hobrecht – Dipl.-Geographin, Vegetationskundlerin, Landschaftsökologin); (Naturschutzfachliche Beurteilung: Nutrias zerstören durch Fraßtätigkeit die Vegetation in Ufer- und Wasserhabitaten, hohe Abundanzen führen zum Rückgang gefährdeter und geschützter Arten, z. B. Iris pseudacorus, Nuphar lutea, Nymphoides peltata, selektive Fraßtätigkeit reduziert die Lebensraumstruktur, auch Veränderungen der Hydrologie sind möglich, eine Konkurrenz mit dem Biber ist wahrscheinlich, Farmbestände sind zum Teil hochgradig mit Salmonellen und Colibakterien verseucht, Nutrias sind potenzielle Überträger von Trichinose und Leptospirose, eine Übertragung in die Wildtierpopulation ist wahrscheinlich; Artensteckbrief Myocastor coypus (Molina, 1782) / Nutria (Sachsen) – https://www.artensteckbrief.de/?ID_Art=125&BL=20012); (Fraßtätigkeit schädigt die Unterwasser- und Ufervegetation, hohe Abundanzen führen zum Rückgang gefährdeter und geschützter Arten, z.B. Iris pseudacorus, Nuphar lutea, Nymphoides peltata (England, Ellis 1963; Italien, Prigioni et al. 2005, Bertolino et al. 2005).
Auch dies ist ein wichtiger Erfolg der Bejagung. Durch den massiven Fraß der aquatischen Vegetation der Gräben sind die Kinderstuben zahlreicher geschützter Fischarten gefährdet. Flussmuscheln werden angefressen. Darunter leidet die Rote-Liste-Art Bitterling, der diese als Wirtstier zur Reproduktion benötigt. Auch die für die Wasserqualität der Gräben leidet durch Rückgang der wichtigen Filterwirkung der Muscheln.
Erste Jagdhunde werden in Bremen im Einsatz gegen die Nutria teils lebensgefährlich verletzt.
Die Population ist nun so stark, dass Schneelagen und starke Frostphasen im Februar 2021 nur wenig Auswirkungen zeigten. Temperaturen von teils unter -12 Grad in mehreren Nächten hintereinander führten zwar dazu, dass zahlreiche erfrorene Tiere an den Ufern der Gräben gefunden wurden und man Nutrias, die an Erfrierungen litten, nachts laut klagend vernehmen konnte. Die Population erscheint trotz Frostereignissen aber nicht gefährdet. Sehr viele Tiere überlebten diese strenge Witterung. Die Lebensraumbedingungen sind hierzulange dazu zu optimal. Entgegen: (strenge, kalte Winter mit langen Schnee- und Frostperioden wirken bestandsregulierend, suboptimale Habitate führen zu erhöhter Wintersterblichkeit (über 85 %) Artensteckbrief Myocastor coypus (Molina, 1782) / Nutria (Sachsen) – https://www.artensteckbrief.de/?ID_Art=125&BL=20012) Der urbane Raum bietet hier allerdings wieder bessere Überlebensbedingungen. Teils drückten sich Tiere dort in Frostnächten an Hauswände (Gerd Gartelmann, Niederblockland).
Trotz der intensiv geführten, aber nie flächendeckend möglichen Bejagung vermehren sich die Tiere auf der Fläche weiter und setzen nun ihre Invasivitätsstrategie zwar verlangsamt, aber stetig weiter fort – nun auch weiter in den urbanen Raum hinein. 2021 erhalten wir aus verschiedenen Stadtteilen Bremens fast wöchentlich Meldungen von betroffenen Bürgern über Schäden durch Nutria. So aus Borgfeld, Horn-Lehe, Strom, Vegesack, Oberneuland, Kattenturm und Grolland. Es handelt sich um Unterhöhlungen von Grundstücken, Durchdringen von Verwallungen oder Grabungen an Deichen, um verwüstete Gemüsegärten und untergrabene Sielanlagen. Die Nutria dringt jetzt aus allen Richtungen ins Stadtgebiet vor und tritt dort auch teils weit entfernt von Gewässern auf.
Die Stufe 4 ist jetzt erreicht!
Stufe 5
Erobern des urbanen Raums der Stadt Bremen / Bestand wird nicht mehr regulierbar
Zukunftsbetrachtung
Folgen wir nun dem Trend und nehmen den weiteren Verlauf nach dem erreichten Stand sowie allen vorliegenden Informationen und Erfahrungen an, zeichnet sich ein düsteres Bild. Die Nutria wird hier, wie auch schon in anderen Städten, weiter in den städtischen Raum vordringen und dort neue Habitate erschließen.
Das Besondere für das Land Bremen ist, dass im Gegensatz zu anderen Städten 85% der Landesfläche unterhalb der Hochwassergrenze liegen. Das Stadtgebiet ist rund herum von Wasser umgeben und von mehreren tausend Kilometern Gräben und Fleeten, die die Stadtteile entwässern, durchzogen. Die Sicherung des Stadtgebietes erfolgt über Deiche und Einrichtungen des Hochwasserschutzes. Eben in diese Gräben und Fleete dringen die Nutrias nun vor. Sie werden dort Ufer, Wege und Straßen, Brücken, Gebäude, Kulturgüter und Einrichtungen des Hochwasserschutzes unterhöhlen und beschädigen. Sie sorgen dann dafür, dass laufend große Mengen an Erdmaterial in die Fleete transportiert werden und die Fließeigenschaften der regenwasserabführenden Gräben negativ verändert werden. Die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen und von Überschwemmungen in den Stadtteilen wird zunehmen. Sie werden in unsere Parks und Gärten vordringen und auch dort zu Schaden gehen. Falsch informierte Menschen werden sie dort zu füttern beginnen. Die Nutria ist sehr wehrhaft. Hunde können in eine Gefährdungslage geraten.
Die Nutria wird damit einen Lebensraum erreichen, indem sie sicherer vor natürlichen Feinden wie Fuchs und Greifvögeln ist, die in der Lage sind, Jungtiere zu erbeuten. Sie wird einen Lebensraum erreichen, der wesentlich mehr Schutz bei starken Frostperioden im Winter bietet. Es ist zu erwarten, dass schließlich eine vollständige Unabhängigkeit von Starkwintern entstehen kann. Und ein Lebensraum, in dem sie quasi nicht mehr regulierbar ist, weil die Jagd hier kaum ausgeführt werden kann. Aufenthaltsorte hinter Wohnbebauung oder Gewerbeimmobilien mit kleinteiligen Gewässern und bewachsenen, schlecht erreichbaren Ufern bieten besten Schutz. Die Beseitigung von entstandenen Schäden ist vielerorts nur sehr schwer möglich, weil die Erreichbarkeit mit Maschinen schlecht oder unmöglich ist. Das jährliche Schadenspotential liegt mit Sicherheit im mehrstelligen Millionenbereich. Und die Nutria wird hier nicht mehr verschwinden, sondern bleiben.
Die Landesjägerschaft Bremen e.V. sieht die dringende Notwendigkeit eines sehr engen Austausches und einer konsequenten Unterstützung durch das Land Bremen insbesondere der Stadtjägermeister und weiterhin die notwendig enge Zusammenarbeit und Unterstützung durch die Deichverbände.
Die zu Grunde liegenden Daten stammen aus Beobachtungen und Berichten der Landesjägerschaft Bremen e.V., Berichten und Meldungen der Bremischen Deichverbände, betroffener Bremer Bürger und im Bremen tätiger Wissenschaftler, Vegetationskundlern und Landschaftsökologen und der genannten Quellen. Wir stehen in einem engen Austausch mit der Stiftung der Tierärztlichen Hochschule Hannover – Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung im Rahmen der Ausarbeitung eines Managementkonzeptes Nutria.
Marcus Henke
Vizepräsident
Landesjägerschaft Bremen e.V.